Zorn im Freistaat Flaschenhals

Als Freistaat Flaschenhals bezeichnete der Volksmund nach dem 1. Weltkrieg die neutrale Zone zwischen den Brückenköpfen Mainz und Koblenz. Seinen Namen erhielt er, weil der Landstreifen die Form eines Weinflaschenhalses hatte. Die besetzten Gebiete um diese Städte waren durch einen Radius von 30 km, der durch einen Zirkelschlag auf der Generalstabskarte festgelegt wurde, entstanden. Das Gebiet dazwischen reichte vom Rhein mit den Städten Lorch und Kaub bis nach Limburg. Es war stellenweise nur einige hundert Meter breit. Von 1919 bis 1921 gab es im "Freistaat Flaschenhals" sogar eine eigene Münzhoheit. Als Motive für die Geldscheine mußten beispielsweise die Grenzabbildung herhalten, oder es wurden Sprüche wie, "nirgends ist es schöner als im Freistaat Flaschenhals" verwendet. Während Algenroth, Ober- und Niedermeilingen zum Festungsbereich Koblenz und Langschied und Nauroth zum Festungsbereich Mainz gehörten, lag Zorn im neutralen Gebiet. Das Dorf war in dieser Zeit von der Kreisstadt Bad Schwalbach und seinem Postort Nastätten völlig abgeschnitten. Die französische Besatzungsbehörde verbot jeglichen Verkehr vom und ins neutrale Gebiet. Es waren Querstangen an den Wegen angebracht und Verbotsschilder in deutscher und französischer Sprache aufgestellt. Vielerorts waren die Straßenverbindungen unterbrochen. So auch zwischen Wollmerschied und Strüth, bei Zorn und Egenroth.

Karte Flaschenhals

Die Algenrother Kinder, seit ewigen Zeiten zur Zorner Schule gehörend, konnten den Unterricht nicht besuchen. Die Postverbindung war über längere Zeit stillgelegt. Später wurde eine Postlinie und eine Telefonverbindung über Zollhaus, Laufenselden, Zorn und Strüth nach Lorch eingerichtet. Wie auch alle anderen im neutralen Gebiet liegenden Orte wurde Zorn dem Landratamt Limburg unterstellt. Da wir von unserem Standesamt Niedermeilingen getrennt waren, übernahm der Standesbeamte von Strüth diese Aufgaben. Der Pfarrer von Egenroth nahm die Seelsorge wahr. Unser Pfarrer erhielt keine Genehmigung, von Niedermeilingen nach Zorn zu kommen. In der besetzten Zone liegendes Feld konnte von seinen Eigentümern aus dem neutralen Gebiet nicht bestellt werden. Die Zorner Bauern mußten mit ihrem Getreide in die Mühlen nach Dörsdorf oder an den Rhein fahren. Da die Straßen größtenteils durchs französisch besetzte Land führten, konnten nur schlechte Waldwege benutzt werden, was sehr beschwerlich war. Nach und nach wurden diese Waldwege zu einem neugeschaffenen Wegenetz verbessert. Große Probleme machte die Versorgung der Bevölkerung im "Freistaat Flaschenhals" mit Lebensmitteln. Besonders schwierig war es in den Rheingaugemeinden, da hier kaum Landwirtschaft betrieben wurde. So mußten alle Bedarfsartikel mit Pferdefuhrwerken in Limburg und später in Zollhaus geholt werden. Die Fuhrleute fanden reichlich Beschäftigung. Heimlich entwickelte sich bei Nacht ein reger heimlicher Grenzverkehr zwischen dem besetzten und dem neutralen Gebiet. Es wurde fleißig getauscht.
Da alle nach dem Rhein zu liegenden Orte und Städte auf die durch Zorn führende Straße angewiesen waren, kam es zu lebhaftem Verkehr in unserem sonst ruhigen und verträumten Dörfchen.

Ende September lockerten die Besatzer die Verbote. Die Algenrother Kinder erhielten Grenzpässe und konnten wieder die Zorner Schule besuchen.
Im Jahre 1923 mit der Besetzung des Ruhrgebietes durch französische Truppen zogen diese auch im "Freistaat Flaschenhals" ein. So nahm die Grenzziehung glücklicherweise wieder ein Ende und das Leben konnte in gewohnter Weise fortgesetzt werden.

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